Frühe Fremdbetreuung, frühe außerfamiliäre Betreuung
„Es bleibt immer etwas von der Kindheit, immer…“ Marguerite Duras
Unter dem Begriff „frühe Fremdbetreuung“ oder auch "frühe außerfamiläre Betreuung" versteht man eine Betreuung des Kindes in seinen ersten drei Lebensjahren durch „fremde“ Personen, die nicht aus seinem vertrauten Familienumfeld stammen. Manche stoßen sich am Wort „Fremdbetreuung“, aber solange die Qualitätsstandards der Fachgesellschaften für die frühe außerfamiliäre Betreuung (1 Bezugserzieherin auf 2 bis maximal 3 Kinder unter drei Jahren) nicht durchgesetzt sind, behalte ich ihn dort bei, wo er der Realität nahe kommt und die Säuglinge und Kleinstkinder weitestgehend sich selbst überlassen sind.
Zur frühen außerfamiliären Betreuung gehören die Betreuungsformen in Krippe, Kita, Familiengruppen in Kindergärten, bzw. durch eine Tagesmutter.
Eine Kinderfrau, ein Au Pair Mädchen, Babysitter, oder historisch die Amme betreut(e) das Kind meist im häuslichen Umfeld und ermöglicht(e) eine persönlichere Betreuung.
Wie diese Personen die wichtige soziale Funktion der Mutter und des Vaters ersetzen können, verlangt eine sorgfältige Beachtung. Die gegenwärtige Diskussion rund um die frühe Fremdbetreuung dreht sich hauptsächlich um Versorgungsquoten und verlässt sich auf die angenommene Widerstandskraft und Anpassungsfähigkeit der Kleinkinder. Sie lässt natürliche Reifungsvorgänge, die Phasen der Bindungsentwicklung des Kindes und seine Emotionen weitgehend außer Acht. Diesen ersten drei Jahren im Leben eines Menschen kommt jedoch in der seelischen Entwicklung eine Sonderstellung zu. Kinder unter drei Jahren haben noch keine bewusste Orientierung ausgebildet hinsichtlich ihrer eigenen Person (Wer bin ich? Was kann ich? Was will und darf ich?), anderer Personen (Wer ist der andere? Wie steht er zu mir? Was kann ich von ihm erwarten?), des Raumes (Wo bin ich? Was ist das für ein Raum? Wo sind Gefahr und Schutz?) und der Zeit (Wann sind heute, gestern, morgen? Wie lange dauert „gleich“, „eine Stunde“, „ein Tag“?). Säuglinge und Kleinkinder befinden sich „im hier und jetzt“. Sie hängen im größten Maße von ihren Bezugspersonen ab. Die Bindungsperson gewährleistet Schutz und Geborgenheit. Säuglinge benötigen ihre Bindungsperson für die Ko-Regulation ihrer Bedürfnisse und die Ausbildung ihres Ich-Bewusstseins. Kleinkinder benötigen sie als verlässlichen und verständnisvollen Partner für ihre Willensausbildung, Autonomieentwicklung und Etablierung ihres „Selbst“. Kleine Kinder haben große Angst vor Trennung. Diese Angst beginnt im ersten Lebensjahr und dauert bis in das Grundschulalter hinein. Diese Trennungsangst ist zwischen dem 1. und 3. Geburtstag am stärksten ausgeprägt. Säuglinge dürften streng genommen gar nicht von ihrer Bezugsperson längere Zeit getrennt werden. Längere Trennungen führen zu Protest, Verzweiflung und Rückzug/Entfremdung von der Bindungsperson. Schmerzhafte Trennungserlebnisse können von Kindern unter 3 Jahren kognitiv noch nicht verstanden werden und haben einen bleibenden Einfluss auf ihre Gefühlswelt bis in das Erwachsenenalter hinein. Ihre schmerzhaften Erfahrungen als DDR-Krippenkind stellt Hanne Götze in ihrem 2011 erschienenen Buch dar, welches durch den aktuellen gesellschaftlichen Widerstand zum Thema erst im zweiten Anlauf veröffentlicht werden konnte. Ihr authentisches Buch beruht auf dem Erfahrungspotenzial des Ostens Deutschlands, in dem sie aufwuchs und bis heute lebt. Die ersten drei Jahre sind nachweislich bedeutsam für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung. Der achtsame Umgang mit den Bindungsgefühlen kleiner Kinder hat neben der Sorge um körperliche Unversehrtheit oberste Priorität. Die Versorgung von Babys und Kleinkindern ist deutlich anspruchsvoller, als gemeinhin angenommen. Bis das Kind selbst für sich sprechen kann, müssen wir Erwachsene – Eltern, Betreuungspersonen und Fachpersonen – ihm geschützte und förderliche Lebensbedingungen garantieren. Eine qualitativ hochwertige frühe außerfamiliäre Betreuung – und keine andere sollte Kindern unter 3 Jahren zugemutet werden - zeichnet sich durch folgende Kriterien aus:
- Der Betreuer-Kind-Schlüssel bleibt sehr niedrig, d.h. 2-3 Kleinkinder unter 3 Jahren und nicht mehr werden kontinuierlich von einer erwachsenen Bezugsperson betreut. Es findet kein Wechsel der Bezugspersonen am Tag durch Schichtdienste statt. Die Belastung des Kindes durch wechselnde Betreuungspersonen und fremde Räume (Schichtdienste, „Auffanggruppe“ an den Randzeiten) wird abgeschwächt, indem der Personalplan umgestellt oder „im Tandem“ eingewöhnt wird, d.h. die zwei zuständigen Betreuungspersonen befassen sich intensiv mit dem Kind, wobei eine die Hauptbezugsperson ist. Eine Ersatzperson für die Zeit von Krankenständen muss ebenfalls mit den Kleinkindern vertraut gemacht werden. Größere Kinder regen die soziale Entwicklung der Kleinkinder zwar an, können selbst aber unmöglich eine Erziehungsverantwortung übernehmen.
- Die Betreuungsperson verfügt über ausreichende Berufserfahrung und eine spezielle Ausbildung im Bereich Entwicklungspsychologie und Kleinkindpädagogik. Sie versteht die Besonderheiten dieser Altersgruppe und ihre rasch wechselnden Entwicklungsphasen, die durch Fortschritte und gelegentlich auch vorübergehende Rückschritte gekennzeichnet sind. Sie ist in der Lage, ihr pädagogisches Handeln zu reflektieren und hat sich mit ihren eigenen persönlichen Bindungserfahrungen ihrer Kindheit bewusst auseinandergesetzt. Ihre pädagogische Verantwortung beinhaltet auch, von einem Krippenbesuch abzuraten, falls das Kind sehr irritabel/schreckhaft ist, die Eingewöhnung nicht gelingt, das Kind bereits Mehrfachbetreuungen ausgesetzt und keine soziale Integration möglich ist.
- Eine sanfte Eingewöhnung in die fremde Umgebung und eine längere Phase des Kennenlernens ermöglichen es dem Kind, sich mit seiner neuen Bezugsperson vertraut zu machen und auf die Räumlichkeiten, Geräusche und die anderen Kinder einzustellen. Die sanfte Eingewöhnung gilt als ein grundlegendes Qualitätsmerkmal der Einrichtung. Sie ist elternbegleitet und bezugspersonenorientiert. Die häufig gestellte Forderung nach der „Abschiedsbewusstheit“ bei der Trennung bis etwa 3 Jahre verkennt die kognitive, emotionale und soziale Reife des Kleinkindes und kann in ihm einen gefährlichen Stress auslösen. Die sanfte Eingewöhnung dauert unterschiedlich lange und ist abhängig vom Bindungstyp und der momentanen Entwicklungsphase des Kindes. Der zeitliche Rahmen einer sanften Eingewöhnung sollte vor dem Wiedereintritt in den Beruf ausreichend großzügig bemessen werden. In dieser Zeit begleitet die Mutter das Kind und unterstützt den Übergang, ihre Vermittlungsfunktion für den Beziehungsaufbau zwischen der Betreuungsperson und dem Kind wahrnimmt. Das benötigt Zeit, Geduld und eine tragfähige Erziehungspartnerschaft zwischen der Mutter und der Betreuungsperson. Siehe eigenes Kapitel „Die sanfte Eingewöhnung“.
- Die Betreuungsperson für Kinder unter drei Jahren stellt immer auch eine wichtige Bindungsperson dar. Ihre Bedeutung ist enorm. Die Betreuungsperson kann sich empathisch und feinfühlig den Kindern zuwenden und den Konkurrenzdruck der Kinder untereinander ausbalancieren. Sie kann auf die individuellen seelischen Bedürfnisse der Kinder nach Nähe und Unabhängigkeit, Anregung und Ruhe eingehen und ihnen bei der Regulation ihrer Gefühle helfen. Gleichzeitig versteht sie es, den Anforderungen der Gruppe gerecht zu werden und für ein positives Klima zu sorgen. Die Betreuungsperson benötigt für ihre wichtige Aufgabe zumutbare Arbeitsbedingungen und eine entsprechende Entlohnung, in welcher die Wertschätzung ihrer Arbeit zum Ausdruck kommt.
Hinsichtlich des zeitlichen Ausmaßes der frühen außerfamiliären Betreuung ist Folgendes zu sagen:
- Je jünger das Kind, desto weniger Stunden,
- Das Stundenausmaß richtet sich danach, wie das Kind ganz individuell die Trennung von der Hauptbezugsperson und die Zeit der Betreuung außer Haus bewältigen kann,
- Besser an mehreren Tagen wenige Stunden als viele Stunden an weniger Tagen,
- Erhöhungen im Stundenausmaß sollten nur sehr langsam und schrittweise erfolgen,
- 20 Stunden und mehr gelten als generelles Entwicklungsrisiko für Kinder unter 3 Jahren (NICHD Study of Early Child Care and Youth Development - SECCYD).
2 Aspekte seien noch hervorgehoben:
Nicht jedes Kind unter 3, manchmal sogar 4 Jahren verkraftet eine Betreuung außer Haus – auch nicht nach einer sanften Eingewöhnung und sei die Einrichtung auch qualitativ noch so hochwertig. Was für die einen zu einem Entwicklungsanreiz werden kann, kann für andere aus unterschiedlichen Gründen eine anhaltenden Belastung bleiben, die sich in Veränderungen der Kortisol-Tagesprofile und in der Gefühlswelt nachhaltig niederschlagen können. Die Eltern sollten sich intensiv mit den Besonderheiten kindlicher Entwicklung in den ersten 3 Lebensjahren auseinander setzen, um das Verhalten ihres Kindes richtig einordnen zu können und bei Bedarf rechtzeitig fachlichen Rat einzuholen.
Für Kinder aus sozial benachteiligten und hochgradig konfliktbehafteten Familien können die Stunden in der Fremdbetreuung die einzigen sein, in denen sie ein „normales Leben“ erfahren. Für solche hoch belasteten Kinder, die nicht selten vielfältige Verhaltensstörungen entwickelt haben, sind feinfühlige und zuverlässige Betreuungspersonen manchmal die ersten Menschen, zu denen sie eine positive, vertrauensvolle Beziehung aufbauen können.
Böhm, R.: Auswirkungen frühkindlicher Gruppenbetreuung auf die Entwicklung
und Gesundheit von Kindern. Kinderärztliche Praxis 82 (2011), Nr. 5, S.
316-321.
Mit Dank für die persönliche Genehmigung für die Veröffentlichung
Sigman, A. (2011). Mother superior? The Biological Effects of Day Care. The Biologist 58 (3), 28-32.
Mit Dank für die persönliche Genehmigung zur Veröffentlichung
Herbst, T. (2012). Qualitativ hochwertige Betreuung für Kinder unter vier Jahren – Empfehlungen für eine bindungsbasierte Erziehung im Rahmen der Montessori-Pädagogik. Montessori Österreich Nr. 36 Heft 2.