Sichere Bindung erhält das Leben
Sichere emotionale Bindungen gelten als wesentliche Grundlage, auf der sich die kindliche Fähigkeit zur Bewältigung von Belastungen entwickelt. Vernachlässigung führt zu menschlichem Verschleiß, liebevolle Bindung dagegen zur Erhaltung menschlichen Lebens: Im 17.-19. Jahrhundert waren Vernachlässigung, sexueller Missbrauch, Gewalt, Feindseligkeit und das Verlassen von Kindern weit verbreitet.
Die Kindersterblichkeit war allgemein sehr hoch. Trotzdem gab es große Unterschiede zwischen den Familien. In 50% der Familien starben fast keine Kinder und in 10% der Familien sehr viele. Der Unterschied lag in den Bindungsgefühlen. Die Bereitschaft der Eltern, den Bedürfnissen ihrer Kinder zu entsprechen, sich um sie zu sorgen, zu bangen, wenn sie krank waren und sie zu lieben sicherte das Überleben der Kinder.
Das Ausbleiben konstanter Liebe und Fürsorge kann tödlich sein. Anfang des 20. Jahrhunderts erkannte und beschrieb der in Graz und später München tätige Kinderarzt, Meinhard von Pfaundler als erster den „emotionalen Mangel“ als Ursache für die Entstehung des Immundefizits und die hohe Säuglingssterblichkeit in Heimen und Krankenhäusern (Nissen 2005, S. 278-283). Verschiedene Wissenschaftszweige richteten ihre Aufmerksamkeit zunehmen auf die Mutter-Kind-Beziehung. René Spitz untersuchte die Folgen frühkindlicher Deprivation („Mutterentbehrung“). Die alte Lehrmeinung vom „dummen Vierteljahr“ der Säuglinge wurde widerlegt. John Bowlby begründete in den 1950er Jahren die Bindungsforschung, welche zusammen mit Mary Ainsworth in den 1960er und 1970er Jahren ausgebaut und empirisch überprüft wurde. Ihr zufolge stellt die sichere Bindung einen Schutzfaktor für die weitere Entwicklung dar.
In unserer Zeit ist die Kindersterblichkeit in den Industrieländern durch die Fortschritte der Medizin und den hohen Lebensstandard auf ein Minimum zurückgegangen. Es bestehen für Kinder heute, in einer kompliziert und hektisch gewordenen Welt neue Gefahren für die seelische Entwicklung, wie z.B. Vereinsamung, Überforderung durch die Trennung der Eltern, Mobbing und Versagen in der Schule, Leistungsdruck, schlechte Berufsaussichten, sehr leichte Verfügbarkeit von Drogen und einengende Freizeitgestaltungen (Computerspiele) mit hohem Suchtpotenzial.